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Die Geburt eines gesunden Kindes ist ein Ereignis, über das wir uns alle freuen können. Und von jenen, die es wissen müssen, weil sie dabei waren, wurde folgende Geschichte erzählt:

Wie bei jedem freudigen Ereignis, so waren auch hier die üblichen Gäste und die Familie anwesend. Und darüber hinaus noch mehr oder weniger merkwürdige Gestalten bis hin zu skurrilen Typen, von denen es hieß sie seien wohl bei jedem Ereignis zugegen. Besonders aber fielen jene drei Gestalten auf, von denen man im ersten Moment nicht so recht wusste, was sie denn eigentlich darstellen sollten.

Der erste Typ trug ein buntes Lumpengewand, teilweise ein wenig schmuddelig und abgetragen, und näherte sich langsam den jungen Eltern. Sein ungewöhnlich geschminktes Gesicht erinnerte entfernt an einen Clown, wenn da nicht der eher nachdenkliche Blick gewesen wäre. Als er dann das Kind erblickte, überzog ein leises Lächeln sein bemaltes Gesicht und der Mund schien förmlich von einem zum anderen Ohr zu reichen. Vorsichtig streckte er die Hand nach dem Kind aus – zu allgemeinen Erschrecken der Umstehenden und natürlich der Eltern. „Ich bringe Dir die Lebensfreude“, sagte sie. „Ich komme zu dir, weil die Menschen nur mehr so wenig zu lachen haben. Die wahre Freude am Leben ist ihnen abhanden gekommen. Alles ist so bitter ernst und trostlos geworden. Überall nur Gewalt, Konsum und Leere.“ Dann griff der Typ nach einem seiner an sich herabhängenden Fetzen und zog ein Stück hervor, das aussah wie eine Patchworkdecke und legte sie zu dem Kind. „Es ist kalt in dieser Welt geworden. Vielleicht kann dich dieser Mantel wärmen und schützen. Er wird Dir Geborgenheit schenken, immer dann wenn Du sie ganz besonders brauchst.“

Dann schob sich der zweite Typ aus der Menge hervor. Manche hatten ihn schon vorher am Gang herumirren sehen. Sein schnittiges Outfit mit Ledermantel und Aktenkoffer passte irgendwie nicht hierher. Der Blick war gehetzt und er schien ziemlich in Eile zu sein, denn dauernd schaute er auf seine etwas eigenartige Uhr oder eines seiner Smartphones, die er alle mit sich trug. Immer wieder tippte ein oder zweimal darauf und verzog unwillkürlich den Mundwinkel. In dem Moment aber, als in unmittelbare Nähe zu dem Kind kam, war es plötzlich als falle alle Hast und Hektik von ihm ab. „- Zeit – „, flüsterte er völlig außer Atem und streckte ebenso seine fahrige Hand nach dem Kind aus. „Eigentlich – puhh, – ja eigentlich“ – er rang sichtlich nach Luft – „gibt es mich kaum noch. Alle sagen, die Zeit vergeht wie im Flug. Doch die Menschen haben ein große Weisheit vergessen. Die Zeit vergeht nicht, die Zeit entsteht. Sie wächst wie Blumen oder ein Baum – und sie wächst überall dort, wo man sie teilt.“ Dann griff die Gestalt in die Innenseite ihres Ledermantels und zog ein altertümlich wirkendes Stundenglas hervor. Der Sand darin schimmerte golden und im bläulich-grünem Glas spiegelten sich die Lampen der Deckenbeleuchtung. „Man hat so wenig Zeit in dieser Welt. Deshalb schenke ich Dir diese Sanduhr, denn es ist noch nicht so spät, wie viele glauben. Sie soll Dich immer daran erinnern, dass Du in jeder jede Sekunde soviel Zeit hast, wie du Dir nimmst, anderen schenkst oder mit ihnen teilst.“

Nach einigen Momenten der Stille und des Staunens, die die umher stehenden Personen erfasst hatte, löste sich aus ihnen ein dritter Typ. Sein Kopf war mit einer Kapuze bedeckt, die er nun abstreifte. Darunter trug die Gestalt noch eine graue Beaniemütze. Alle erschraken nun über das wilde, geschunden wirkende und mit Narben übersäte Gesicht. Es schien so, als wäre dieses immer und immer wieder geschlagen worden. Wie die beiden vorhergehenden Gestalten, so streckte auch diese die Hand nach dem Kind aus. Diese aber schien übersät von blaugrünen Blutergüssen, Schürf- und anderen Wunden zu sein, die ihr das bisherige Leben zugefügt haben musste. Doch je näher sie dem Kind kam, desto mehr verschwanden diese und heilten augenblicklich.

„Ich bringe die Liebe“, hauchte sie und berührte zärtlich das Kissen neben dem Kopf des Kindes. „Viele meinen, ich sei viel zu gut für diese Welt. Deshalb schlagen sie nach mir, treten mich mit Füßen und werfen mir allerhand unfreundliche Dinge nach.“ Während die Gestalt so sprach, traten dicke Tränen in ihre Augen – und drei davon tropften neben das Kind. „Wer liebt, hat viel zu leiden in dieser Welt. Nimm deshalb meine Tränen. Sie sind, wie das Wasser, das geduldig den Stein höhlt. Sie sind wie der Regen, der den trockenen staubigen Boden wieder Leben schenkt und selbst die Wüste zum Erblühen bringt.“

Da verbeugten sich die drei eigenartigen Typen lange vor dem Kind. Das Kind aber schaute die drei an, als ob es sie verstanden hätte.

Dann wandte sich die Gestalt, die die Liebe gebracht hatte, zu den Menschen um, die dabeistanden: „Dieses Kind wird viel von seiner Zeit anderen opfern und viel leiden müssen, weil es so leidenschaftlich lieben wird. Durch seine Lebensfreude und weil es seine Zeit und Liebe verschwendet, wird diese Welt nie mehr so sein wie früher. Wegen dieses Kindes steht die Welt unter einem neuen, guten Stern, der alles andere in den Schatten stellen wird.“

Dann traten die drei Typen zurück in die Menge. Wann und wo sie den Raum verließen ist nicht bekannt, denn keiner hatte sie mehr bemerkt. Die Menschen aber, die das Alles miterlebt hatten, dachten noch lange über dieses rätselhafte Ereignis nach . . .