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Wie wir aus der Bibel (Lk 2,1-20) entnehmen können, war an jenem ersten Weihnachtstag auch im Himmel einiges los. Die Menge der himmlischen Heerscharen jubelte über den Feldern von Betlehem: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden!“ – und wies den Hirten den Weg zum Geburtsort des Retters.

Unter ihnen war auch ein kleiner Engel, nicht so fein gekleidet, erwachsen und angepasst wie die anderen. Eher eine Art Eigenbrötler, einer, der nicht einfach alles so machte, wie es aufgetragen war, sondern eine eigenen Weg suchte und so manches in Frage stellte. Obwohl er nun mit den anderen Engeln gemeinsam flog, zum Singen war ihm irgendwie nicht zumute und so schwieg er. Eigentlich sollte sein Schweigen in dem unendlichen Chor nicht weiter auffallen, sollte man meinen, aber es machte sich doch bemerkbar. Engel singen bekanntlich in geschlossenen Reihen, und da fällt jede Lücke sogleich auf. Die Sänger neben ihm bemerkten es zuerst, stutzten und seine Stille übertrug sich auf sie. „Oh nein – der schon wieder!“ dachten manche und setzten ebenfalls den Gesang aus. Das Schweigen pflanzte sich somit rasch fort und beinahe hätte es den ganzen Chor erfasst, wenn nicht einige unbeirrbare Großengel mit kräftigem Anschwellen der Stimmen den Zusammenbruch des Gesanges verhindert hätten. Einer von ihnen ging dem gefährlichen Schweigen nach. Mit bewährtem Kopfnicken ordnete er das weitere Singen in der Umgebung und wandte sich dem kleinen Engel zu.

„Warum schweigst du in diesem Augenblick der Freude und willst nicht singen?“ fragte er ihn streng. Jener antwortete: „Ich wollte ja singen. Ich habe meinen Part gesungen bis zum Ehre sei Gott in der Höhe. Aber als dann der Teil mit dem Frieden auf Erden unter den Menschen kam, konnte ich nicht mehr weiter mitsingen. Auf einmal sah ich die vielen bewaffneten Soldaten und Kämpfer in diesem Land und in allen Ländern. Immer und überall verbreiten sie Krieg, Gewalt, Furcht und Schrecken, bringen Junge und Alte um und nennen das Frieden. Und auch wo nicht Soldaten sind, herrschen Streit und Gewalt, fliegen Fäuste und böse Worte zwischen den Menschen und regiert die Bitterkeit gegen Andersdenkende. Es ist nicht wahr, dass auf Erden Friede unter den Menschen ist, und ich singe nicht gegen meine Überzeugung! Ich merke doch den Unterschied zwischen dem, was wir singen, und dem, was auf Erden wirklich ist. Es ist für mein Empfinden zu groß, und ich halte diese Spannung nicht länger aus. Tut mir leid, ich kann einfach nicht!“

Der große Engel schaute ihn lange schweigend an. Er sah wie abwesend aus. Es war, als ob er auf eine höhere Weisung lauschen würde. Dann nickte er und begann zu reden: „Gut. Du leidest am Zwiespalt zwischen Himmel und Erde, zwischen der Höhe und der Tiefe. So wisse denn, dass in dieser Nacht eben dieser Zwiespalt überbrückt wurde. Dieses Kind, das geboren wurde und um dessen Zukunft du dir Sorgen machst, soll unseren Frieden in die Welt bringen. Gott gibt in dieser Nacht seinen Frieden allen und will auch den Streit der Menschen gegen ihn beenden. Deshalb singen wir, auch wenn die Menschen dieses Geheimnis mit all seinen Auswirkungen noch nicht hören und vielleicht noch weniger verstehen. Wir übertönen mit unserem Gesang nicht den Zwiespalt, wie du meinst. Wir singen das neue Lied, das diesen Frieden verkündet.“

Da besann sich der kleine Engel und rief: „Wenn es so ist, singe ich gerne weiter.“

Der Große aber schüttelte den Kopf und sprach: „Du wirst nicht mehr mitsingen. Du wirst einen anderen Dienst übernehmen. Du wirst nicht mit uns in die Höhe zurückkehren. Du wirst von heute an den Frieden Gottes und dieses Kindes zu den Menschen tragen. Tag und Nacht wirst du unterwegs sein. Du sollst an ihre Häuser pochen und ihnen die Sehnsucht nach ihm in die Herzen legen. Du musst bei ihren trotzigen und langwierigen Verhandlungen dabei sein und mitten ins Gewirr der Meinungen und Drohungen deinen Gedanken des Friedens einwirken lassen. Du musst ihre heuchlerischen Worte aufdecken und die anderen gegen die falschen Töne misstrauisch machen. Nicht selten werden sie dir die Türe weisen, du aber wirst auf den Schwellen sitzen bleiben und hartnäckig warten. Du musst die Unschuldigen, Geschlagenen und Vertriebenen unter deine Flügel nehmen und ihr Geschrei an uns weiterleiten. Du wirst nichts zu singen haben, vielmehr wirst du viel zu weinen und zu klagen haben. Du hast es so gewollt und Gott hat dich erhört. Du liebst die Wahrheit mehr als das Gotteslob. Dieses Merkmal deines Wesens wird nun zu deinem Auftrag. Und nun geh. Unser Gesang aber wird dich begleiten, damit du dich immer erinnerst, dass in dieser Nacht der Friede zur Welt gekommen ist.“

Der kleine Engel war unter diesen Worten zuerst noch kleiner, dann aber größer und größer geworden, ohne dass er es selber merkte. So setzte er seinen Fuß auf die Felder von Betlehem. Er wanderte mit den Hirten zu dem Kind in der Krippe und öffnete ihnen die Herzen, sodass sie verstanden, was sie sahen. Dann ging er in die weite Welt und begann zu wirken. Angefochten und immer neu verwundet, tut er seither seinen Dienst und sorgt dafür, dass die Sehnsucht nach dem Frieden nie mehr verschwindet, sondern wächst, Menschen beunruhigt und dazu antreibt, Respekt und Toleranz zu suchen und Frieden zu schaffen. Wer sich ihm öffnet und ihm hilft, hört plötzlich wie von ferne einen Gesang, der ihn ermutigt, das Werk des Friedens unter den Menschen zu verbreiten und weiterzuführen. Also sei mal still und lass Stille um Dich sein, damit du den Gesang vernehmen kannst.

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